JACQUES RANCIERE interview von JOSEPH CONFAVREUX*.
Joseph Confavreux: Was ist Ihre Sichtweise auf den Moment bzw. die Bewegung der «Nuit debout»?
Jacques Rancière: Halten wir fest, dass mein Gesichtspunkt streng eingeschränkt ist: Es ist derjenige eines Beobachters von ausserhalb, der einfach darauf reagiert, was die Themen und Formen dieser Bewegung bei ihm auslösten. Auf den ersten Blick kann man in dieser Bewegung eine Art kleine französische Version der «Platz-Bewegungen» erkennen, welche in Madrid, New York, Athen und Istanbul stattfanden. Sie wird auf dem besetzten Platz toleriert, mehr als sie ihn nicht überwältigt. Aber sie teilt mit diesen Besetzungen, die Sorge, der Politik ihren Aspekt der tatsächlichen materiellen Subversion zurückzugeben von einer gegebenen Ordnung von Räume und Zeiten. Diese Praxis hatte Mühe nach Frankreich zu kommen, wo die Gesamtheit der «Politik» heutzutage auf den Konkurrenzkampf um die Präsidentschaft der Republik reduziert wird. Die «Nuit debout» hat Mühe, an sich selbst zu glauben und gleicht mitunter einer unvollkommenen Besetzung. Aber sie ist Teil dieser Bewegungen die eine Umwandlung von der Demonstrations-Form in die Besetzungs-Form unternahmen. In diesem Fall bedeutete dies, den Kampf gegen gewisse Bestimmungen des Arbeitsgesetz umzustellen in eine direkte Opposition gegen das, was von einigen «Uberisierung» der Arbeitswelt genannt wird, ein Widerstand gegen diesen Trend, der jegliche kollektive Kontrolle über die Formen des kollektiven Lebens ausmerzen möchte.
Neben spezifischer Massnahmen des El-Khomry-Gesetzes ist es tatsächlich dies, was auf dem Spiel steht. Dieses Arbeitsgesetz erschien als Höhepunkt eines ganzen Prozesses der Privatisierung des öffentlichen Raumes, der Politik, des Lebens… Ist der Arbeitsvertrag etwas, das für jedes Individuum einzeln ausgehandelt wird, was bedeutet, in die Situation des 19. Jahrhunderts zurückzukehren vor der Geburt des modernen Arbeiter*innenkampf, beziehungsweise verteidigen wir eine Gesellschaft die auf kollektiver Kontrolle und Diskussion über Leben und Arbeit gründet?
Die «Nuit debout» erschien in diesem Zusammenhang wie eine Reduktion auf den französischen Masstab von etwas, das man ein Begehren nach Gemeinschaft nennen könnte. Wir haben eine Zeit erlebt, als man sich in kraftvollen (puissantes) kollektiven Strukturen wiederfand, inmitten derer Schlachten geführt wurden, sei es innerhalb der Universität oder des Betriebs. Nun hält der Kampf an der gleichen Stelle zwei Arten Gemeinschaft zu schaffen entgegen. Aber wir haben das Ende einer grossen Offensive erreicht, die einige neoliberal nennen, und ich eher die Offensive des absoluten Kapitalismus nennen würde, die zu der absoluten Privatisierung aller sozialen Verhältnisse tendiert und zur Zerstörung kollektiver Räume, wo zwei Welten aufeinanderprallen.
Gegen diese Privatisierung und diese Individualisierung, hat man ein Begehren hervorkommen sehen, welches man bei «Occupy Wall Street» sehr stark spüren konnte, ein eher abstraktes Begehren nach Gemeinschaft, das um sich zu materialisieren, die Strasse als den letzten verfügbaren Ort gefunden hat. Die Besetzung hatte einst ihren bevorzugten Ort in der Fabrik, wo die Zusammenkunft der Arbeitenden ihre Macht über den Ort und das Verfahren geltend machte gegen die Macht der Vorgesetzten, und so diesen privaten Ort zu einem öffentlichen Raum gemacht hat. Sie findet nun in den Strassen statt, auf den Plätzen, wie in den letzten öffentlichen Räumen wo man gemeinsam sein kann, das Diskutieren und Handeln im Gemeinsamen (en commun).
Um die Nuit debout werden die französische Revolution, die Pariser Kommune oder Mai-68 oft genannt. Was denken Sie von dieser Anrufung der revolutionären Geschichte, die einige mehr parodistisch als real betrachten?
Die «Freunde der Kommune»2 haben tatsächlich ihren Stand auf dem Place de la Republique. Befindet man sich dennoch in der Kontinuität einer grossen historischen Tradition? Es muss klar sein, dass die Offensive des absoluten Kapitalismus begleitet war durch eine intensive intellektuelle Konterrevolution, einer revisionistischen Offensive gegenüber allen Formen linker Tradition die revolutionär, kommunistisch, antikolonialistisch oder widerständig waren. Diese intellektuelle Konterrevolution hat nicht weniger als versucht, alle Elemente dieser Tradition zunichtezumachen, und diese sogar zu kriminalisieren. Die Revolution von 1917 wurde reduziert auf die Lager Stalins, die französische Revolution auf den Terror, der Antikolonialismus auf das zwecklose «Schluchzen des weissen Mannes»3, und schlussendlich die Résistance auf die Exzesse der Säuberungen. Es ist also die Auslöschung einer ganzen Vergangenheit, ausgeführt von Leuten, die ausserdem nicht aufhören, die verlorene «Ausrichtung» zu beweinen.
Der Wille, wieder an die Vergangenheit anzuknüpfen, ist folglich wichtig, auch wenn das formal und symbolisch erscheinen mag. Diese Erinnerung an eine Geschichte der Kämpfe und Widersprüche können, in einer Bewegung wie Nuit debout, die nicht mehr, wie diejenige des Mai-68, auf der sicheren Grundlage des marxistischen Glaubens an den Klassenkampf und Arbeitskämpfe steht, auch die Rolle eines Gegengewichts spielen, angesichts der Gefahr einer Verwässerung der Politik in einer Art New-Age-Brüderlichkeit.
Wie lesen Sie die von Nuit debout getragenen, sehr horizontalen Ansprüche ohne Repräsentanten und Wortführer?
Man sollte diese im Kontext des stetig wachsenden Horrors angeregt von der offiziellen Politik betrachten. Die grosse Parole «Ihr repräsentiert uns nicht!» beim 15-M in Madrid war gegen die gerichtet, die nachher Kampagne machten. Aber es steht auch in Verbindung mit einer Diskreditierung der politischen Avantgarden, welche 1968 noch sehr einflussreich (puissantes) waren. Die aktuellen Versammlungen reagieren auch auf die bekannten Formen von Zusammenkünften im Mai-68 und danach, die von Splittergruppen manipuliert waren. Man ist gezwungen, diese Erinnerungen als das zu verstehen, was Gleichheit ausmacht, in ihrer sehr materiellen Formen. Aber was darüber hinaus Fragen aufwirft, ist die Ideologie des Konsens mit der Vorstellung, dass die ganze Welt einig sein muss und einer Fetischisierung derjenigen Form der Versammlung, als Ort, wo jeder sprechen können sollte.
Das ist ein Anliegen, das übrigens von vielen Leuten in der Bewegung geteilt wird: Eine Volksversammlung (assemblée populaire) sollte nicht nur eine Zusammenkunft sein, wo jeder auf seine Weise, sein Problem und seine Revolte ausdrückt und für die militante Sache spricht, die ihm besonders am Herzen liegt. Nuit debout versammelt, wie alle Besetzungen dieser Art, Individuen die gewillt sind, das Gemeinsame neu zu erschaffen, aber auch diese Vielheit einer partiellen Militanz, Spezialisierte, die sich im selben Kontext der Privatisierung des öffentlichen Lebens und in der Zurückweisung der «Avantgarden» entwickelten. Es ist wichtig das Recht einer jeden Stimme zu bekräftigen, aber eine Versammlung muss auch etwas entscheiden können, nicht nur proklamieren: «wir sind alle gleich».
Eine Versammlung muss sich also auch durch Entscheidungen und Kämpfe manifestieren, und nicht nur in einer formalen Darstellung der Gleichheit. Es ist sicherlich wichtig, diese räumlich zu materialisieren. Im Jahr 1848 hatte es den Vorschlag zu einer Versammlung gegeben, bei welcher die Repräsentanten alle unten positioniert waren, und tausende Leute aus der Bevölkerung über ihnen um sie zu überwachen. Der eigentliche materielle Aspekt der egalitären Politik ist also wichtig. Aber das freiheitliche und egalitäre Handeln kann nicht einfach die Form einer Versammlung annehmen, wo jeder die Möglichkeit der freien Äusserung hat. Die Gleichheit ist ein Prozess der überprüfenden Aktualisierung (vérification), ein Prozess der Invention; das ist nicht einfach eine Photographie der Gemeinschaft.
Das Problem bleibt, Aktionen und Parolen zu erfinden, damit die Gleichheit sich in Bewegung setzt.
Eine egalitäre Versammlung ist also keine konsensuelle Versammlung, auch wenn der Begriff des Konsenses im Herzen aller Platzbesetzungs-Bewegungen steht. Ich erinnere mich an den empfundenen Schock, als ich einmal von Studierenden in Amsterdam eingeladen wurde zu reden in einer besetzten Universität, unter dem grossen Transparent das proklamierte: «Consensus. No leaders». Der Kampf gegen die Hierarchien ist die eine Sache, die Ideologie des Konsenses eine andere. Den Führungsfiguren (leaders) und Hierarchien widersprechen – auf jeden Fall, aber das heisst nicht, dass alle Welt einig sei, und man nur noch Dinge tut worüber alle Welt einverstanden ist.
Das setzt eine Neudefinition dessen voraus, was wir unter Demokratie verstehen, wie man dann mit der «Episode Finkielkraut»4 sehen konnte, die eine Aufspaltung über das zur Folge hatte, was man unter die Begriffe Konsens oder Konflikt setzt?
Die Episode Finkielkraut hatte Nuit debout nicht abgewertet, abgesehen von den Bereichen, worin sich Nuit debout in jeder Hinsicht von Anfang an disqualifiziert war. Was wäre passiert wenn Finkielkraut weitergegangen wäre und ihn niemand bemerkte? Die Joffrins, Onfrays und Konsorten, die stattdessen «Totalitarismus» schrien, hätten hämisch gelacht: «Guckt nur diese schlechten Revolutionäre! Sie haben nicht einmal gewagt Finkielkraut anzusprechen!» All dies ist nicht wirklich wichtig. Das Problem liegt anderswo.
Demokratie bedeutet, in mitten der demokratischen Gemeinschaft (peuple démocratique) selbst, Positionen die miteinander in Konflikt treten und nicht nur die Abfolge am Mikrophon von einer Person, die über Marxismus sprechen kommt, einer Zweiten, die Tier-Rechte zur Sprache bringt und einer Dritten, die an die Situation der Migrant*innen erinnert. Es braucht mehrere Arten von Versammlungen: Solche bei denen jeder zu sagen vermag was er will, weil dabei auch etwas auftauchen kann, das man nicht erwartet, aber vor Allem auch solche Versammlungen wo man sich fragt: «Was machen wir hier und was wollen wir?» Das Problem der Demokratie ist, dahin zu kommen, den Willen einer Bevölkerung (peuple) zu konstituieren. Auf welchen Grundlagen und Parolen lässt sich Gemeinschaft bilden, kann ein demokratisches Kollektiv erschaffen werden?
Aktuell hat man das Gefühl in einer Art Raum der Subjektivierung zu sein, aber ohne dass sich eine kollektive Subjektivierung wirklich einstellt. Das liesse zweifellos annehmen, dass starke soziale Bewegungen darüber hinaus existieren und besonders, dass die Jugendlichen, die wie am Rand der nationalen Gemeinschaft leben – auch sie – Kollektive konstituieren um zu sagen was sie wollen. In den achtziger Jahren hat es diesen Marsch für die Gleichheit gegeben bei welchem Jugendliche mit Migrationshintergrund teilnahmen, deren Effort von dem «sozialdemokratischen»5 Lügenmärchen vereinnahmt, manipuliert und völlig aufgerieben wurden. Es ist heute sehr schwierig, die Gleichheit wieder in Bewegung zu versetzen. Ich habe auch nicht mehr Phantasie als jede*r Andere, aber ich denke darin liegt das Problem. Man bewahrt noch häufig die Idee, dass je mehr Unterdrückung, es desto mehr Widerstand gibt. Aber die Formen der Unterdrückung die uns regieren schaffen keinen Widerstand, sondern Entmutigung, Abscheu sich selbst gegenüber und das Gefühl, dass man unfähig ist zu tun was man sollte. Also kann man gut sagen, dass die Nuit debout von der Umwelt abgeschlossen stattfindet und sich in Illusionen wiegt, aber aus der der Mutlosigkeit herauszufinden bleibt fundamental.
Was denken Sie von der Thematik, eine Verfassung zu schreiben und eine konstituierende Versammlung herzustellen?
Das Desinteresse für die institutionellen Formen des öffentlichen Lebens im Namen einer angeblichen revolutionären Radikalität hat gewiss zur Demobilisierung der Energien beigetragen. Es ist also wichtig zu wiederholen, an welchem Punkt der Zustand (état), in dem wir uns wiederfinden, eine Konsequenz ist der desaströsen Verfassung der fünften Republik, der Betäubung des ganzen politischen Lebens und der Fäulnis der Geister welche diese seit langem produziert haben. Eine Bewegung gegen die fünfte Republik und gegen die Präsidentschaft ist also eine Notwendigkeit. Und im Gleichen die Erinnerung an gewisse provokante Wahrheiten über die Demokratie, wie der Auslosung und was diese impliziert: die Deprofessionalisierung des politischen Lebens.
Aber einerseits wird der Ruf nach einer konstituierenden Versammlung begleitet von einer etwas platten «bürgerlichen» Ideologie und einer etwas steifen «republikanischen». Aber schliesslich muss man sich nicht einbilden, aus der aktuellen oligarchischen Fäulnis einfach durch das Aufsetzen einer guten Verfassung herauszukommen. Das Schreiben einer Verfassung ist dann wichtig, wenn es von Leuten gemacht wird, von denen dies nicht erwartet wird, die nicht die Befugnis (qualité) haben es zu tun. Aber es ist auch dann wichtig, dass es in einem Prozess des Kampfes stattfindet, wo die Worte nicht Rezepte sind für eine glückliche Zukunft, sondern Waffen für die Gegenwart. Es wäre zum Beispiel gut, wenn diese «von Bürgern geschriebenen» Verfassungen sich in effektive Kampf-Prozesse einschreiben gegen die existierende konstitutionelle Ordnung, die beispielsweise hilfreich wären, die berühmten «grossen demokratischen Vorwahlen» durcheinander zu bringen. Die Leute auf den Ämtern würden gegen Demokratie schreien, aber das würde eine Diskussion über die eigentliche Bedeutung des Wortes Demokratie schaffen, die nützlich sein könnte.
Der Grund des Problem ist, dass man sich Formen des politischen Lebens vorstellen muss, die zugleich völlig anders sind als dieses offizielle politische Leben, das komplett beschlagnahmt ist von einer Klasse Professioneller die sich auf unbestimmte Zeit reproduzieren – eine Situation die in Frankreich ein Niveau erreicht hat ohne Vergleich in Westeuropa –, und trotzdem fähig, diese zu konfrontieren gemäss ihren eigenen Formen und Agenden.
Was tut man mit dem Vorwurf soziologischer Homogenität, welcher an Nuit debout adressiert wurde?
Zu Beginn war der Mai-68 die Bewegung einer kleinen Gruppe kleinbürgerlicher Studierenden. Und diese, fortgerissen von der Dynamik des Generalstreiks, veränderte sich selbst, gemeinsam auf der Sorbonne, in unzähligen Kampfformen die hier und da ausbrachen. Man muss daran denken welche Vorbildrolle der Streik und die Beschlagnahmung, welche seit mehreren Wochen in der Fabrik von Sud-Aviation in Nantes stattfand, für die Besetzung der Sorbonne spielten. Die Nuit debout tritt auf nach der sinnbildlichen Verurteilung zu Gefängnisstrafen von Arbeitern von Goodyear für dieselben Taten. Sie tritt auf in diesem Kontext der Verlagerung von Unternehmen, Fabriksschliessungen, Arbeiter-Niederlagen und Bestrafungen von Formen des Widerstands. Sie kann nicht auf einer sozialen Dynamik bauen wie man sie beim Mai-68 kannte. Selbstverständlich wären Bewegungen wie Nuit debout oder eines anderen Typs überall vonnöten, insbesondere in den quartiers, die 2005 revoltierten.
Man kann den Leuten auf dem Place de la République immer vorwerfen, Gymnasiasten, jugendliche Prekäre oder Individuen, nichts anderes zu repräsentieren als sich selbst. Aber es ist der allgemeine Zustand von dem was hier Politik genannt wird, der berücksichtigt werden muss. In einem Frankreich, das von der erwähnten neoliberalen Offensive, der sozialistischen Täuschung und einer immensen intellektuelle Kampagne gegen die ganze soziale militante Tradition formlos zurückgegeben wird, kann man nicht einfach darauf verweisen, dass Nuit debout keine grosse soziologische Sache repräsentiert.
Damit diese Bewegung weiter gehen könnte, müsste sie Parolen zu erfinden vermögen die sie über sich selbst hinaus ausbreiten liesse. Es gibt vielleicht die Möglichkeit, die Situation der Vorwahlen zu ergreifen, nicht um eine «innerparteiliche Vorwahl der wahren Linken» zu schaffen, sondern eine äusserst starke Mobilisierung gegen das Präsidentschaftssystem. Man könnte sich vorstellen, dass eine derartige Bewegung nicht nur zu Erklärungen führen würde, dass wir nie wieder sozialistisch wählen werden, sondern zu etwas wie einer Bewegung für die Nicht-Präsidentschaft oder die Abschaffung der Präsidentschaft der Republik.
Kann Nuit debout erlauben, den Bleimantel der Zeit nach den Anschlägen (chape de plombe post-attentats) zu verlassen, versinnbildlicht durch einen wieder von Wort und Kampf in Beschlag genommenen Place de la République, nun wo dieser zum Mausoleum geworden ist?
Man darf nicht zuviel von dieser Bewegung verlangen. Aber es ist richtig, dass eines ihrer wesentlichen Elemente die Transformation einer trauernden Jugend in eine kämpfende Jugend ist, wenn auch diese Transformation nicht eine einfache ist. Wenn man auf den Place de la République geht, sieht man wie es sehr langsam vonstatten geht, dass Symbole des kollektiven Kampfes die Ausdrücke der Trauer überlagern. Das ist schwierig festzuhalten aufgrund der intellektuellen Konterrevolution, der es gelang, die Jugend von einer ganzen Tradition sozialer Kämpfe und politischem Horizont zu separieren. Das Merkmal aller Platzbesetzungsbewegungen war die Schwierigkeit sich zu identifizieren als Träger*innen einer zukünftigen Kraft (puissance), und kollektiver Subjektivierungen, Identitäten in Arbeit und in Veränderung gegen die auferlegten Identitäten, so wie sie Arbeitskollektive oder Frauenkollektive zu sein vermochten.
Das ist aufgrund des von der intellektuellen Konterrevolution geschaffenen ideologischen Bleimantels immer noch sehr richtig in Frankreich. In Griechenland gab es starke (puissants) autonome Bewegungen, die Räume geschaffen haben für Leben, Wissen und Pflege (soins). In Spanien bildete sich um die Kämpfe gegen Wohnungsräumungen ein Kollektiv, das heute das Rathaus in Barcelona besetzt. Bewegungen und Kampfformen dieser Reichweite existieren nicht in Frankreich, und die Bewegung Nuit debout ist Waisenkind von Kampfplätzen, die woanders mobilisiert werden konnten.
Doch gleichermassen bleibt das Gefühl, das mit der Nuit debout etwas passiert, dass eine Kraft zu Erfindungen manifestiert wird, die einige Arten des Denkens der radikalen Linken erneuert?
Man weiss nicht genau, was in den Köpfen der Personen vorgeht, die sich auf dem Place de la République zusammenkommen. Man findet da enorm verschiedene Dinge. Aber es ist wahr, dass man eine demokratische Forderung findet, die der alten Leier der «formalen Demokratie», als blosse Erscheinung welche die Herrschaft der bourgeoisen Ökonomie überdeckt, entgegensteht. Die Forderung nach Demokratie «real und jetzt» hat das Verdienst, mit dieser denunzierenden Logik aufzuräumen, die vorgibt radikal zu sein, jedoch aber eine Art Quietismus produziert, und schlussendlich in der Art reaktionär ist: Auf jeden Fall ist es das Kapital, die Ursache von Allem , und die Leute die im Namen der Demokratie handeln tun nichts ausser seine Herrschaft zu verschleiern und seine Ideologie zu verstärken. Aber offensichtlich geht der Gewinn verloren wenn man die Demokratie auf die Form der Versammlung reduziert. Die Demokratie ist eine Sache der Vorstellungskraft.
Sind Sie empfänglich für die zirkulierenden Worte, Schriften und Rezitationen bei den Nuits debout?
Es gibt tatsächlich viele zirkulierenden Worte, auch wenn diese nicht alle von einem unvergesslichen Gehalt sind. Leute kommen und sagen ihre Gedichte auf, aber das ist selten eine Poesie die einen Schock der Neuartigkeit auslöst. Gleichzeitig sieht man Leute, die niemals reden und sich hier zu sprechen wagen und das ist doch bezeichnend, wenn auch, um dies festzuhalten, diese Zirkulation von Worten weniger gehaltvoll ist als das, was man beim Mai-68 wahrnehmen konnte. Auf der einen Seite ermöglicht die Versammlungsform einer grösseren Menge von Leuten herzukommen und ihre Geschichte zu erzählen. Auf der Anderen hat man unter dieser Blüte von Slogans und vielfältiger Bilder den Eindruck, dass diese bei vielen Demonstrationen jüngerer Zeit die einstigen einheitlichen Banner ersetzt haben. Tiefer gehend ist die Frage, ob das Begehren nach Gemeinschaft nicht das Vermögen zu egalitärer Erfindung behindert.
Die Initianten von Nuit debout wollen mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten hinsichtlich des Tags der Arbeit. Wie sehen Sie diesen Vorschlag?
Das «Zusammenlaufen der Kämpfe» ist ein bisschen das Modell des grossen Traums vom Mai-68, die Verbindung zwischen Studierenden und Arbeiter*innen. Zu der Zeit hat sich das materialisiert im Zug der Studierenden Richtung Billancourt. Heute ist Billancourt kahl geschoren und die Sorbonne ein Ort, wo man sich nicht ohne Plan hineinwagt. Ein weitere Sache ist es, in dem knappen Raum der sich zwischen Place de la République und dem Arbeitsamt ausbreitet um die Vorbereitung der 1. Mai-Paraden zu debattieren. In jedem Fall hängt die Frage des Zusammenlaufens der Kämpfe von der Beschaffenheit dieser Kämpfe selbst ab.